Zahnseiden-Lurch 28.07.09 @ 23:17 derKommissar
Mir war anfangs nicht klar, was hier passiert sein konnte. In meiner Laufbahn als Kriminalbeamter hatte ich schon viele Dinge gesehen, aber ein Zahnseiden-Lurch im Mund einer männlichen Leiche gibt selbst einem alten Hasen Rätsel auf. Das Foto hab ich beim Eintreffen am Tatort geschossen.
Erste Fakten; Ein Mann Mitte vierzig, der mit weit geöffnetem Mund am Asphaltboden vor einem achtstöckigen Gemeindebau am Rücken liegt. Die Füße zeigen zum Wohnhaus. Die weit aufgerissenen Augen treten aus ihren Höhlen und starren tot in den klaren Sternenhimmel. Die Blutlacke rund um den Kopf des Mannes deutet auf eine massive Kopfverletzung hin. Der am Boden kniende Gerichtsmediziner bestätigt meinen Verdacht. Der Kopf sei geplatzt, wie eine Melone, die ungebremst aus dem achten Stock auf den Asphaltboden knallt, sagt er.
Daß jemand aus dem achten Stock fällt, kommt vor, freiwillig, unfreiwillig, mit oder ohne Fremdeinwirkung. Aber dieser Mann hier hatte einen Zahnseiden-Lurch in seinem weit geöffneten Mund. Auf die Frage, ob den Mund jemand geöffnet haben könnte, um etwas hinein zu legen, sagt der Gerichtsmediziner, der Aufprall habe dem Mann das Unterkiefer aus den Angeln gerissen. Es läge lose auf seinem Hals, daher der unnatürliche Gesichtsausdruck.
Ich machte mich also auf den Weg in den achten Stock, um mir ein Bild über die Lebensumstände des Mannes zu machen. Dabei ist das wichtigste, nicht zu versuchen das Opfer kennen zu lernen. Denn alle die ihn kannten, die Hausbesorgerin, die Nachbarin, können sich nicht erklären, was passiert ist. Ich suche nach Spuren, die zum Zeitpunkt der Tat hinterlassen wurden.
Der Fernseher läuft. Die Balkontür ist offen. Eine Pizzaschachtel mit abgelutschten Olivenkernen liegt am Couchtisch. Zwei leere Bierflaschen. Ich bestelle mir eine Pizza, schmeiß mich vor den Fernseher und trinke zwei Bier. Ich vergleiche den Todeszeitpunkt mit der Programmzeitschrift und orte im laufenden Sender „Vera“. Ich kann mir schon vorstellen, daß sich jemand während einer Vera-Sendung vom Balkon stürzt. Das würde auch die Lage der Leiche und die aufgerissenen Augen erklären. Er ist so lange schockiert auf das Fernsehgerät starrend zurückgewichen, bis er rücklings über das Balkongeländer fiel. Ich könnte an dieser Stelle mit meiner Arbeit zufrieden gewesen sein, wäre da nicht die Zahnseide im Mund des Mannes. Vielleicht hat ja doch jemand nachgeholfen.
Draußen am Balkon entdecke ich die leere Schachtel Zahnseide. Sie hat sich zwischen den unteren Querträger des Geländers und die Bodenfliesen gefressen. Das kleine Messer, das den Faden schneiden sollte, ist aus dem Kunststoff herausgebrochen. Die Plastikverpackung muß sich mit einiger Wucht im Geländer verfangen haben, der Faden hat das Metallstück im falschen Winkel belastet haben und ... Zack. Weggebrochen.
Ich dachte nach.
Ich rief den Pizza Service an und ließ mir den Verdacht bestätigen, daß die Pizza mit Speck geliefert wurde. Sicherheit wird die Analyse des Mageninhalts der Leiche geben. Er aß also eine Pizza mit Speck und trank zwei Bier. Er sah sich Vera an. Ihn störte vermutlich der Speck zwischen den Zähnen. Er ging ins Badezimmer um Zahnseide zu holen. Aber warum der Balkon? Ich dachte angestrengt nach. Teletext!
Im Teletext erfuhr ich, daß es bei Vera an diesem Abend um Sternschnuppen ging.
Der Mann hat sich also ans Balkongeländer gelehnt und Sternschnuppen suchend die Zwischenräume seiner Zähne von Speckresten befreit. Einer Sternschnuppe folgend, schwang er seinen Kopf zurück, und verlor dabei das Gleichgewicht. Er ließ die Packung mit der Zahnseide aus der Hand gleiten um nach dem Geländer zu greifen, das von der Baugenossenschaft in den Achtzigern um sechs Zentimeter zu nieder gebaut wurde. Die Verhandlungen zwischen der Gemeinde und der Baugenossenschaft laufen diesbezüglich noch. Die Zahnseide hängt zwischen den Schneidezähnen, die Hände des Mannes verfehlen den oberen Querträger des Geländers um Zentimeter, er fällt in die Finsternis. Als die Zahnseidepackung auf den Balkonboden gefallen war, ist die Zahnseide um etwa die Körpergröße des Mannes aus der Packung ausgetreten. Jetzt änderte sich durch die Umlenkung über das Geländer der Winkel zur Öffnung der Packung. Der Faden hatte sich im Messer gefangen und zog die Packung hinterher. Die Packung verkeilte sich zwischen den Bodenfliesen und dem unteren Querträger des Balkongeländers, der Faden spannte und riß das Metall aus der Kunststoffverankerung.
Die Zahnseide wird bis zum Ende aus der Packung gezogen und fällt ihrem bereits unten angekommenen Besitzer in den weit geöffneten Mund.
Kein einfacher Fall. Er bestätigt aber einmal mehr, wie wichtig der Lurch in der Kriminologie ist.
...01.08.09 @ 23:20derKommissar
S.g.Herr karacho.
punkt 1: Es ist mir unerklärlich, wie die Information zu ihnen durchsickern konnte, daß der Verunglückte Franz hieß. Haben sie eine seiner Nachbarinnen gekannt?
punkt 2: Hier liegen Sie falsch: Der Faden ist ihm nicht gerissen, sonst wäre in der Vepackung Zahnseide verblieben.
punkt 3: Ihre Beobachtungsgabe erstaunt mich. Tatsächlich hat der Tote die Zahnseide individuell benutzt. Aber bohren sie in der Nase, wie man es ihnen in der Werbung empfielt? Würden in meiner Abteilung mehr von ihrer Sorte Arbeiten, käme es wohl niemals zu einem Abschlußbericht ohne Fragezeichen.
punkt 4: Unfall. Richtig. Auch in ihrer Interpretation des Tathergangs, ergibt sich ein Unfall. Somit ist das Ganze nicht mehr mein Ressort. Aber kommen sie mir nicht mit Teilschuldigen, denn da müßte ich angefangen von seiner Mutter, die ihn geboren und so sein Ableben erst ermöglicht hat, alle verhören.
@...02.08.09 @ 11:16karacho
mir ist jene szene nur aus liedern bekannt, (hinweis- blume aus ..) welche jedoch viele infos über das verhalten von gemeindebauern aussagt. jedoch das zitat ist nicht vollkommen richtig. einmal heißt es "kummans fernsehen hr. franz", ein andernmal "i hob a neie schissl, hr. franz". der name bleibt unverändert.
war die gebrauchsweise für Sie kein punkt, praktikable motive dafür zu suchen?
ihnen die frage nach schuldigen abzunehmen ist natürlich ein grober fehler.
alles gute bei der aufklärung!
Zeugenbefragung?29.07.09 @ 08:17Lola_von_Lurchli
Lieber Herr Kommisar,
haben Sie den Zahnseidenlurch schon als Zeugen befragt? Dieser könnte wertvolle Hinweise bezüglich des Flugverhaltens von Zahnseide liefern. Was für die Freizeitindustrie interessant sein könnte. Und am Ende wieder Vera zugute kommen würde. Woraufhin wohl einige Unfälle, wie in Ihrem Bericht geschildert, verhindert werden können.
....01.08.09 @ 23:21derKommissar
Werte Frau von Lurchli.
punkt 1: Würden Sie es für klug halten, Zahnseide nach ihrem persönlichen Verhältnis zu ihrem Benutzer zu befragen?
punkt 2: Würden Sie Steuern an einen Beamten zahlen, der einen ZahnseidenLurch nach dessen Flugleidenschaft ausfratschelt?
Rhetorische Fragen?03.08.09 @ 11:32Lola_von_Lurchli
zu Punkt 1: Selbstnatürlich würde ich, wenn ich die Funktion eines Kommsärs bekleidete, Befragungen aller Zeugen vornehmen! Gehört das nicht zu Ihren Dienstpflichten?
Zur Benutzerfrage: Aus Ihrer Schilderung schließe ich, dass der größte Teil der Zahnseide vom Unfallopfer unberührt (also unbenutzt) durch die Luft geflogen ist. Die Luft hat die Zahnseide ebenfalls nicht benutzt. (Die Luft hat keine Beißer! Und wenn die Luft auch oft zum Schneiden ist, so kann man sie trotzdem nicht beißen. Und selbst beißt sich die Luft auch nicht. Schon gar nicht in den Allerwertesten.) Aus diesem Grund kann der überwiegende Teil der Zahnseide keine persönliche Beziehung zum Benutzer aufgebaut haben, weil es eben keinen Benutzer gibt.
zu Punkt 2: Na sowieso. Mir bleibt eh nichts anderes übrig als Steuern zu zahlen. Dass damit Beamte entlohnt werden, deren Leidenschaften sich nicht mit den dienstlichen Aufgaben decken, jedoch im Dienst mehr oder weniger verborgen ausgelebt werden, kann ich nicht verhindern. Und Hand aufs Herz: Wer wird denn so kleinlich sein, wenn diese Leidenschaft dem allgemeinen Wohl dient?
blume aus dem gemeindebau01.08.09 @ 15:37karacho
Anfangs ließ ich mich durch ihre Vera-Story auf eine falsche Fährte locken. Es schien, dass schwärmende Nachbarinnen dem Umschwärmten so zusetzten ("I hob an neign Fernseher, Hr. Franz!"), bis ihm der Faden riss und er sich via Balkon abseilen wollte.
Der aktive orale Gebrauch der Zahnseide weist allerdings auf eine andere Spur hin. Er hatte die Zahnseide nicht, wie üblich, nach 15-20 cm an dem Messerchen abgetrennt, sondern die Schnur mitsamt Verpackung verwendet. Diese Gebrauchsweise wäre sehr ungeschickt in der Handhabung. Ausser, der Tote hatte etwas anderes vor. Wir kommen zu meinem Verdacht. Es muss sich um einen harten Brocken zwischen den Zähnen gehandelt haben. Kraft des Bizeps konnte er diesen nicht entfernen. Also musste der Vera- Seher sein ganzes Körpergewicht zum Einsatz bringen. Er befestigt die Packung wie eine Harpune zwischen Geländer und Fliesen. Fädelt die Seide zwischen den Zähnen ein, steigt übers Geländer, sieht sich schon bei Vera sitzen und seine Geschichte heroisch erzählen. Er ist auf der Aussenseite des Geländers mit dem Gesicht zum Balkon. Hält das Ende der Zahnseide in seinen Händen und lässt sich rücklinks in diese fallen. Der tragische Verlauf nimmt sein Ende.
Es war also ein Unfall.
Es gibt Teilschuldige. Den Pizzakoch, der den Speck auf unadäquate Weise geschmort hat. Die Vera. Sie vermittelt ihren unterbemittelten Sehern, in jedem stecke ein MacGyver.